Aktualisiert am 29. April 2024 von Angelika
Jetzt endlich – mit über 60 Jahren – habe ich das Gefühl, meinen Traum zu leben. Ich sitze an meinem Schreibtisch, greife ein Stichwort, einen Impuls oder einen Google-Suchbegriff auf und verfasse einen Text, der hoffentlich vielen Menschen weiterhilft. Das klingt nicht gerade nach begeisterter Selbstverwirklichung, oder? Und doch tue ich genau das, was ich tun möchte. Zugegeben – ich hatte mal andere Träume. Wer in meinem Alter hatte die nicht?
Anna Koschinski rief zur Blogparade Schreiben über das Schreiben auf – ein schöner Anlass, mich auf eine Zeitreise zu den Stationen meines Lebens und Schreibens zu begeben.
Die frühe Faszination von Buchstaben und Wörtern
Als Kind freute ich mich sehr darauf, endlich zur Schule zu gehen – denn ich wollte lesen und schreiben lernen, und das ganz schnell! Ich glaube, dass ich es auch wirklich schnell lernte, denn wenn ich an meine Grundschulzeit zurückdenke, sehe ich mich immer lesend – Astrid Lindgren und Enid Blyton (die Hanni- und Nanni-Reihe) waren meine Lieblingsschriftstellerinnen. Im Lesen wurde ich eins mit meinen Heldinnen und erträumte mir eine Verwandlung meines zurückhaltenden, sensiblen (in meinen Augen schwachen) Ichs in eine starke, selbstbewusste, unbeugsame Kämpferin.
Vielleicht hatte es damit zu tun, dass im Kindergarten und in der Grundschule viele Spätaussiedlerkinder in meiner Gruppe bzw. Klasse waren – ich versuchte schon früh, perfekt Hochdeutsch zu sprechen und mir den schwäbischen Dialekt abzugewöhnen. Das brachte mir den Spott von Eltern und Verwandten ein. Ich wollte aber so sprechen, wie ich es aus meinen Lieblingsbüchern kannte.
Schöne Bücher schreiben zu können wie Astrid Lindgren – schon als Kind ahnte ich, dass man sich durch das Schreiben ein Stück Unsterblichkeit erarbeiten kann. Ich wollte fleißig üben, um eines Tages die Welt anderer Kinder reicher und bunter machen zu können.
Kindergedichte und Jugendprojekte: Erste Schritte als Autorin
Früh versuchte ich mich an eigenen Texten. Was meine Kinderseele bewegte, wollte ich zu Papier bringen. In den 1960er- und 70er-Jahren wohnten wir im typischen Wohnblock eines gesichtslosen Neubauviertels. Zwischen unserem Haus und dem nächsten Block gab es eine Rasenfläche mit einem Schild „Rasen betreten verboten“. Wir waren 10, 11 Jahre alt. Mit meiner Freundin und meiner Schwester spielte ich trotz des Verbotsschilds auf dem Rasen. Im dritten Stock saß immer ein alter Mann auf dem Balkon, der den ganzen Tag aufpasste, ob auch alle sich an die Regeln hielten. Er schimpfte von oben herunter, wir sollten gefälligst den Rasen verlassen. Als wir nicht auf ihn hörten, kam er sogar die drei Stockwerke herunter und schrie uns an, ob wir nicht lesen könnten, was da steht – wir würden den Rasen mit unserer Herumtrampelei kaputt machen. Wir trollten uns.
Wir beschlossen, uns zu rächen, indem wir dem bösen alten Mann ein passendes Gedicht schrieben. Wir gaben uns sehr viel Mühe und feilten lange daran herum. Das Gedicht begann mit den Zeilen: „Wie ein Kaiser steht er da, ganz nach Majestätera. Grashalme neigen sich, Butterblumen reigen sich. Da – feindliche Soldaten betreten sein Reich. /Der Kaiser wandelt die Treppe hinab und macht sie dem Erdboden gleich …“). Stolz betitelten wir unser Werk mit „Der Kaiser der Grashalme“ und warfen es in seinen Briefkasten. Der Adressat nahm es nicht gerade mit Humor und informierte umgehend meine Eltern. Ich glaube, sie fanden das Gedicht recht witzig und gut gelungen, aber wir mussten zu dritt beim „Kaiser“ zu Kreuze kriechen und uns entschuldigen. „Der Kaiser der Grashalme“ war mein erstes literarische Erzeugnis, das außerhalb der Schule sozusagen das Licht der Öffentlichkeit erblickte, wenn es auch eine Gemeinschaftsarbeit war.
Mit der gleichen Freundin, aber ohne meine Schwester schrieb ich zwei Jahre später einen mehrbändigen Roman in Dialogform. Wir tauchten so tief in unsere Traumwelt ein und waren so besessen vom Schreiben, dass wir es auch während der Schulstunden nicht lassen konnten. Das führte dazu, dass mein Vater zum Klassenlehrer zitiert wurde. Papa und der Lehrer lobten unsere Kreativität, wünschten sich aber, dass wir sie außerhalb des Unterrichts auslebten. Von da an versuchten wir, unsere Schreibtätigkeit in der Schule besser zu verbergen.
Große Literatur und ein Lebenstraum
Der erste große Roman, den ich las, war Vom Winde verweht*. Ich verschlang das Buch im Alter von zwölf Jahren in drei Tagen und drei Nächten. Von da an träumte ich ernsthaft davon, Schriftstellerin zu werden. Schon damals war mir aber klar, dass es ein großes Maß an Wissen und Lebenserfahrung erforderte, ein so episches Werk zu verfassen. Ich las mich durch den Bücherschrank meiner Eltern, wobei ich wenig wählerisch war – ich erinnere mich an viele Simmel-Romane und die Angélique-Reihe. In der Teenagerzeit entdeckte ich zeitgenössische Autoren wie Heinrich Böll, Max Frisch und Günter Grass, sowie Autoren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Bertolt Brecht, Stefan Zweig, Hemingway und D. H. Lawrence. Ich versuchte mich an Gedichten im Stil Erich Frieds. Wenn ich nach meinem Berufswunsch gefragt wurde, antwortete ich „Journalistin“, ohne mir so richtig im Klaren darüber zu sein, was dieser Job erforderte. Da ich bereits Maschineschreiben konnte, glaubte ich, damit schon gut gerüstet zu sein. Den ganzen Tag in einem Büro Zeitungsartikel auf der Schreibmaschine tippen oder in einem Café in Paris einen Roman zu Papier bringen – so ungefähr stellte ich mir meine Zukunft vor.
Zwischen Träumerei und Lebenswirklichkeit
In der 11. Klasse kam ich in Mathematik und Physik nicht mehr mit – heute meine ich, es lag an den Lehrern. Ich sehnte mich danach, so schnell wie möglich auf eigenen Füßen zu stehen, Geld zu verdienen und die Welt zu sehen. Deutsch, Englisch und Geschichte waren meine Lieblingsfächer und gleichzeitig die einzigen, in denen ich wirklich gute Noten hatte. Ich hatte mir schon mit 11 das Maschineschreiben beigebracht und mit 15 in den Ferien bei der Kreissparkasse gejobbt – nachzulesen in meinem Artikel 50 Fun Facts über mich. Ein Bürojob schreckte mich nicht ab, sondern schien mir im Gegenteil ganz verlockend. Ich hatte die Ansprüche an meinen zukünftigen Beruf heruntergeschraubt und wollte „irgendwas mit Sprachen“ machen. Schriftstellerin ist schließlich kein Ausbildungsberuf – einen Roman könnte ich ja „irgendwann nebenher“ schreiben. So entschied ich mich für eine Ausbildung zur Wirtschaftskorrespondentin für Englisch. Ein etwas hochtrabender Titel für eine Ausbildung, nach der ich de facto Fremdsprachensekretärin war. Ich konnte englische Texte stenografieren und weitgehend fehlerfrei auf der Schreibmaschine tippen (es gab noch keine Computer!), und ich hatte ein Grundwissen über betriebs- und volkswirtschaftliche Zusammenhänge erworben. Privat schrieb ich immer irgendetwas – Gedichte, Kurzgeschichten, lange Briefe.
Das Schreiben als unerwartete Konstante in meiner beruflichen Entwicklung
Mein Berufsweg führte mich über alle möglichen Stationen – von der Speditions-Sachbearbeiterin, Anwaltssekretärin, Assistentin der Geschäftsleitung bis zur Controllerin und Expertin für operative Prozesse, nachdem ich in meinen Dreißigern als alleinerziehende Mutter noch ein betriebswirtschaftliches Abendstudium absolviert hatte. Mein Lebensweg führte mich von Stuttgart nach Bremen, wo meine Tochter zur Welt kam, und mit ihr zusammen wieder zurück in die Heimat. Kein Grund, etwas zu bereuen oder mit dem Schicksal zu hadern. Aus allem, was nicht optimal lief, habe ich immerhin eine Menge gelernt. Im Laufe meines Lebens wurde mir klar, dass ich neben einer Affinität fürs Schreiben auch ausgeprägte analytische Fähigkeiten habe, die ich gern in meine beruflichen Aufgaben einbrachte. Ich liebte es, Arbeitsabläufe zu entwickeln, zu optimieren und zu dokumentieren, sodass Mitarbeitende sie verstehen und umsetzen konnten. Auch in diesen Jobs durfte ich viel schreiben: Ich schrieb umfangreiche und detaillierte Schritt-für-Schritt-Anleitungen, visualisierte Prozesse in Powerpoint-Präsentationen und schrieb Management Summaries, in denen ich Wesentliches für die Führungsriege zusammenfasste. Was ich in diesen Berufsjahren lernte, ist mir heute als Reisebloggerin sehr nützlich.
Die Schreibwerkstatt: Entdeckung der eigenen Stimme durch Gemeinschaft und Feedback
Anfang der 2000er-Jahre hatte ich die meiner Meinung nach für eine Autorin erforderliche Lebenserfahrung, dafür aber keine Zeit zum Schreiben mehr. Wenn ich alle halbe Jahre das Programm der Volkshochschule durchblätterte, stach mir jedesmal der Kurs „Lebensgeschichte schreiben“ ins Auge. Ich hatte über 40 Lebensjahre auf dem Buckel – genug, um so ein Projekt in Angriff zu nehmen oder wenigstens mit anderen Gleichgesinnten zu schreiben und sich auszutauschen. 2003 meldete ich mich zu diesem Kurs an. Nie habe ich mich in einer Gruppe so willkommen gefühlt wie hier. Die Textwerkstatt trug mich seither durch manche schwierige Lebensphase. In über 20 Jahren sind viele Geschichten entstanden, mit Spaß, Übung und dem Feedback der anderen entwickelten sich meine Texte weiter. Bis 2017 veröffentlichten wir jährlich eine Sammlung unserer liebsten eigenen Kurzgeschichten, die wir im Laufe des Jahres geschrieben hatten. Ich glaube, dass ich in diesen 20 Jahren mein Gespür für die Qualität eines Textes enorm weiterentwickelt habe und meine eigenen Fähigkeiten realistisch einschätzen kann. Ich war nie besonders gut im Fabulieren. Beim Schreiben verarbeite ich meistens meine eigenen Erlebnisse, sortiere meine Gedanken, reflektiere die Vergangenheit. Ich glaube, dass ich besser schreibe als viele, aber dass es auch viele gibt, die besser schreiben als ich. Ich denke nicht, dass mein Talent für einen großen Durchbruch als Romanautorin reichen würde. Schreiben will ich aber trotzdem – und etwas damit bewirken.
Vom Burnout zur Neuausrichtung
Die Idee, einen Reiseblog aufzubauen und damit meine Lieblingsbeschäftigungen Schreiben, Reisen und Fotografieren unter einen Hut zu bringen, entwickelte sich, nachdem ich 2018 wegen eines Burnouts meinen Job aufgegeben hatte. Während einer Reha und eines späteren mehrmonatigen Coachings konkretisierte ich meine Pläne. Den ursprünglichen Gedanken, über meine Reisen in der ganzen Welt zu bloggen, verwarf ich während eines WordPress-Kurses bei der Webdesignerin Birgit Hotz, die mir klarmachte, dass Reisen in der ganzen Welt keine Nische ist und ich es damit schwer haben würde, gegen die Tausende von Weltreisebloggern zu bestehen, die schon in der Blogosphäre unterwegs sind. Für mich war klar: Wenn ich schreibe, dann will ich damit auch Menschen erreichen und ihnen in irgendeiner Form weiterhelfen. Während der Pandemie machte ich einige Roadtrips durch Deutschland und war begeistert von den interessanten Orten, herrlichen Landschaften und historischen Sehenswürdigkeiten, die ich dabei entdeckte. In Birgits Kurs, in dem wir zunächst an unserer Positionierung arbeiteten, wurde mir klar, dass ich mit einem Deutschland-Reiseblog am ehesten viele Leser erreichen könnte, denn es ist doch viel einfacher, umfassendes Knowhow über das eigene Land aufzubauen als für andere Länder, die man nur einmal kurz besucht. Nur wenn ich in einem Land lebe, kann ich in die Tiefe gehen und wirkliches Verständnis für die Geschichte und Kultur entwickeln – das ist jedenfalls meine Meinung.
Starthilfe von der Blogger-Community
Mit diesen Erkenntnissen und einer noch nicht veröffentlichten Website, die fünf Seiten und drei Blogartikel umfasste, nahm ich Ende 2022 an der Jahresrückblick-Challenge von Blogger-Coach Judith Peters teil und schrieb meinen Jahresrückblick 2022. Ich war von Judiths Kreativität und ihrer ansteckenden Energie so begeistert, dass ich mich für ihr Blogger-Jahresprogramm The Content Society anmeldete – kurz nachdem ich meine Website online gestellt hatte. The Content Society ist eine Gemeinschaft von Blogger:innen, die sich gegenseitig Feedback geben und motivieren. Es gibt eine umfangreiche Wissensdatenbank und Expertinnen für alle wichtigen Themenbereiche rund ums Bloggen, Co-Blogging-Sessions, einen wöchentlichen Blog-Impuls von Judith, monatliche Blog&Business-Talks mit ihr und vieles mehr. In meinem ersten Jahr schrieb ich über 20, teils sehr umfangreiche Blogartikel geschrieben, was ich ohne die Motivation und neuen Erkenntnisse, die ich in The Content Society gewann, sicher nicht geschafft hätte. Deshalb meldete ich mich für 2024 erneut an. Judiths Blog-Impuls vom 18.3. war, an der Challenge Schreiben über das Schreiben teilzunehmen! Von allein wäre ich darauf nie gekommen, da ich Anna und ihren Blog bisher nicht kannte. Auch wegen der Möglichkeiten, sich mit anderen Blogger:innen zu vernetzen, ist The Content Society Gold wert.
Vom Traum zur Wirklichkeit im digitalen Zeitalter
Nun blogge ich seit etwas mehr als einem Jahr und ich habe endlich die Möglichkeit zu machen, was ich mein Leben lang machen wollte – zu schreiben und meine Texte mit der Welt zu teilen. Auch wenn ich es weniger leicht finde, als ich mir das mal vorgestellt hatte. Reisebloggerin zu sein erfordert unglaublich viel zeitintensive Recherchearbeit – schließlich sollen ja alle Informationen in meinen Texten korrekt sein. Auf Laber-Artikel nach dem Motto „Mein Reisetagebuch“ ohne konkrete hilfreiche Tipps habe ich keine Lust, denn wie die meisten Menschen möchte ich nützlich sein. Ich finde auch Bücher nutzlos, die nur geschrieben wurden, um zu unterhalten. Wahrscheinlich genügt der Unterhaltungswert vielen Lesern und auch vielen Autoren. Mir aber nicht. Also erfreue ich mich an den Romanen großartiger Schriftsteller wie Haruki Murakami*, Iris Wolff*, Daniel Kehlmann*, Juli Zeh*, Bernhard Schlink*, Daniela Krien* und anderen, die etwas zu sagen haben und die mit Sprache viel virtuoser umgehen als ich es noch lernen könnte. Stattdessen reise ich mit offenen Augen durch mein Heimatland, suche mit meiner Kamera die schönsten Perspektiven, versuche historische Zusammenhänge zu ergründen und bemühe mich, das alles in lesbare, verständliche und hilfreiche Blogartikel zu packen.
Liebe Angelika,
es war sehr spannend für mich, deinen Lebensweg anhand des Schreibens nachzulesen. Besonders lustig finde ich die Geschichte mit eurem Nachbarn und dem Grashalm-Gedicht!
Wiedererkannt habe ich mich auch: Ich war als Kind ähnlich begeistert vom Lesen. Mein Berufswunsch damals war Bibliothekarin. 🙂
Wie schön, dass du jetzt deinen Berufswunsch von früher auf anderem Wege verwirklichen kannst. Ich finde deinen Reiseblog sehr interessant und lese immer wieder gerne von dir.
Herzliche Grüße
Wiebke
Liebe Wiebke,
ganz herzlichen Dank für deinen netten Kommentar! Dabei fiel mir ein, dass ich zwischendurch auch Bibliothekarin werden wollte. Tatsächlich beneide ich auch heute immer noch die Bibliotheks-Mitarbeiterinnen, wenn ich in unsere Stadtbibliothek gehe – da gehe ich tatsächlich immer noch regelmäßig hin😅. Ich denke immer, dass es ein wunderbar entspanntes Arbeiten sein muss zwischen all den Büchern, aber vielleicht haben sie auch manchmal Stress mit den Besuchern😉.
Dass du gern auf meinem Blog liest, freut mich natürlich ganz besonders.
Herzliche Grüße,
Angelika